Unsere Filme im April - Ankommen
Sur – Süden
07.04.

Sur, „Süden“, so lautete der Name der Bar, in der Floréals Clique einst die Nächte bei endlosen Gesprächen um Politik, das Leben und die Liebe zum Tag gemacht hatte. Es sollte sie später in alle Winde verschlagen. So manche waren von der Geheimpolizei „verschwunden“ worden. Auch Floréal holten sie irgendwann. Ironischerweise lag das Straflager ebenfalls im Süden, im patagonischen Nirgendwo am äußersten Rand seiner Heimat Argentinien. Wir begegen Floréal im Film nach dem Ende der Diktatur, zum Zeitpunkt seiner Rückkehr in die Hauptstadt, wo er eine Frau und einen kleinen Sohn hat. Doch vor dem Wiedersehen liegen noch zahlreiche Erinnerungen und Erwartungen, Ängste und Träume.

Die so zwischen Früher und Heute, Realität und Imagination mäandernde Erzählstruktur des Films wird untermalt von den unfassbar traurigen, schönen Tangos Astor Piazzollas und dem Gesang Roberto „El Polaco“ Goyeneches: „Die Kamera gleitet durch den Raum der leergefegten Straßen, das Bandoneón erklingt, man hört es atmen“, wie Walter Ruggle für Trigon schreibt.

Vielleicht ist „Sur“, der die somnambule Erinnerungsreise seines Protagonisten fast durchweg in bläuliches Chiaroscuro taucht, der poetischste Film des sonst so zornigen Fernando Ezequiel „Pino“ Solanas. Als Coautor eines wegweisenden Manifests zum Tercer Cine und des dokumentarischen Film-Epos „La hora de los hornos“ („Die Stunde der Feuer“, 1968, mit Santiago Álvarez) war dieser einer der Pionier_innen eines dezidiert antiimperialistischen Kinos lateinamerikanischer Prägung. Auch für Solanas bedeutete „Sur“ eine Auseinandersetzung mit dem Neubeginn; in seinem Fall nach Jahren zwangsweisen europäischen Exils. Über dreißig Lebensjahre lagen dann noch vor ihm, in denen er das politische Geschehen seines Landes kritisch kommentierte – ob in dem Roadmovie „El viaje“ („Die Reise“, 1992), der dokumentarischen Groteske „Memorias del saqueo“ („Erinnerungen einer Plünderung“, 2008) oder, zuletzt, dem Filmessay „Viaje a los pueblos fumigados” (“Reise in die verseuchten Dörfer”, 2019). Ein Attentat aus dem Jahr 1991, das er nur knapp überlebte, hatte ihn noch bestärkt in seinem politischen Aktivismus und seinem unermüdlichen Engagement dafür, den globalen Süden ins Zentrum der Weltöffentlichkeit zu rücken. 2020 verstarb Fernando Solanas 84jährig an den Folgen von Covid.

Textverantwortliche: AR    = ^. x .^ =  ﻯ

Sur – Süden Still
Abschied von gestern
14.04.

Anita G., Jüdin, ist von „drüben“ in den Westen gekommen. Mit ihrem Koffer in der Hand lernt sie bei Begegnungen mit seltsamen Menschen ein seltsames Land kennen: die BRD des Jahres 1966. Der „Abschied von gestern“, den Alexander Kluges Spielfilmdebut formuliert, ist historisch keine leichte Sache, selbst wenn man an die „Stunde Null“, die „Gnade der späten Geburt“ oder das „Wirtschaftswunder“ glaubt. Anita G. aus der DDR, ist die Personifikation dieser verdrängten Vergangenheit, weshalb ihr die Voraussetzungen fehlen, sich erfolgreich in die bundesdeutsche Gesellschaft einzugliedern. Daß sie aneckt, ist nicht ihre Schuld. Wie sie aneckt, zeigt „Abschied von gestern“ anhand fast schon dokumentarischer Szenen, die von einem souveränen Gespür für die grotesken Momente des Alltags zeugen. U.a. mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ohne dessen stetiges Engagement die Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1981) nicht zustande gekommen wären.

„Abschied von gestern“ wird als Meilenstein und Klassiker des „Neuen Deutschen Films“ beschrieben, der in Erzählweise und Stil neue Wege einschlug.

(Textverantwortliche: KE)

Abschied von gestern Still
Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
21.04.

„Sobald ich ins Borstal kam, machten sie mich zum Langstreckenläufer (…), denn Laufen ist bei uns zu Hause immer großgeschrieben worden, besonders das Weglaufen vor der Polizei.“

„Die Einsamkeit eines Langstreckenläufers“ ist ein britischer Film aus dem Jahr 1962, der auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Alan Sillitoe basiert.

„Ein wegen Diebstahls in eine Erziehungsanstalt gesteckter Junge soll das Heim als Langstreckenläufer repräsentieren. Als sicherer Sieger gibt er kurz vor dem Ziel auf – aus Protest gegen den Anpassungsdruck einer Gesellschaft , deren bigotte Moralprinzipien er durchschaut hat. Ein herausragendes Werk des britischen „free cinema“. Präzise Milieustudien, in denen die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität verdeutlicht werden, verbinden sich mit dem rebellischen Gestus der englischen Nachkriegsjugend.“ Lexikon des internationalen Films

Das „Filmsucht.org“-Portal schreibt: „Der Film verdeutlicht, dass bedingungsloser Konformismus das Leben einfacher, aber auch falscher macht. Tony Richardsons Plädoyer für Integrität und Individualismus kommt ohne Moralkeule aus und entwirft ein stimmungsvolles Porträt seiner Hauptfigur. Diese verkörpert Tom Courtenay in seinem Debüt fabelhaft, in den Folgejahren stieg er zum gefragten Charakterdarsteller auf.“

Das „British Film Institute“ wählte „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ im Jahr 1999 auf Platz 61 der besten britischen Filme des 20. Jahrhunderts. Das Magazin „Time-Out“ machte 2018 ebenfalls eine Umfrage nach dem besten britischen Film unter rund 150 Filmschaffenden und Kritiker_innen, bei der der Film auf Platz 36 landete.

(Textverantwortlicher: JU)

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers Still
Früchte des Zorns
28.04.

„Wo immer hungernde Menschen um ihr täglich‘ Brot kämpfen, ich werde da sein. Wo immer ein Polizist einen Mann schlägt, ich werde da sein. Wo immer einer aufschreit in seinem Zorn, ich werde da sein.“  John Steinbeck aus „Früchte des Zorns“

„Früchte des Zorns“ wäre definitiv eines der Bücher für die Insel. Die Romane von John Steinbeck sind für mich von großer Bedeutung. Oft standen seine Figuren am Rande der Gesellschaft und obwohl er kein radikaler Linker war, prangerte er unerläßlich den menschenverachtenden Kapitalismus an. Konservative Politiker_innen, Kirchenvertreter_innen und Unternehmer_innen beschimpften Steinbeck als Kommunist und mancherorts wurden seine Bücher verboten. 1940 bekam er für den Roman den Pulitzer-Preis. 1962 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Bereits ein Jahre nach Veröffentlichung des Romans drehte John Ford die Verfilmung des Romans mit Henry Fonda in der Hauptrolle. Der Film gilt als eines der ersten Roadmovies sowie als eine der großen Literaturverfilmungen. Die Geschichte spielt in den USA der 1930er Jahre. Das Land befindet sich in der Großen Depression, jede_r vierte Amerikaner_in ist arbeitslos. Im Mittleren Westen ist seit Jahren kein Regen mehr gefallen, die Felder sind zu Staub geworden. Hunderttausende Farmer_innen ziehen in der Hoffnung auf Arbeit in das gelobte Land Kalifornien – und finden dort kein Paradies vor, sondern eine kapitalistische Hölle der Ausbeutung und Erniedrigung.

„The Grapes of Wrath“ wurde für sieben Oscars nominiert und gewann in den Kategorien „Beste Regie“ und „Beste Nebendarstellerin“. Wie auch das Buch wurde Fords Verfilmung zum Klassiker: Als einer der ersten 25 Filme fand er 1989 Aufnahme in das „National Film Registry“ und wurde bei einer Wahl des „American Film Institute“ 1998 auf Platz 21 der besten amerikanischen Filme aller Zeiten gewählt. Die von Henry Fonda verkörperte Rolle des Tom Joad schaffte es auf Rang 12 der Top 50 Kinohelden. Zudem gab es den Platz 7 der 100 inspirierendsten Filme aller Zeiten.

Der Kameramann Gregg Toland kreierte eine düstere Grundstimmung. Er setzte bewußt auf wenig beleuchtete Szenen. Aufgrund der inhaltlichen und optischen Schwere gilt der Film als „sozialer“ Film Noir.

(Textverantwortlicher: JU)

Früchte des Zorns Still
Unsere Filme im Mai - Vorschau
„Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod“ & Live-Musik mit Eren Akşahin
05.05.


Wir freuen uns sehr, dass im Anschluss an den Film Eren Akşahin live für uns Gastarbeiter_innenlieder spielen wird. Eren ist ist Bağlama Spieler, Multi-Instrumentalist und Komponist. Seine Musik ist eine Synthese zwischen Anatolischer Folklore und westlichen klassischen Klängen.

Dieser Abend findet in Kooperation mit dem Referat für antifaschistische Arbeit der FH Bielefeld statt – der Eintritt ist frei.

Zum Film:
Anfang der 1960er-Jahre wurden die sogenannten Gastarbeiter_innen aus Anatolien und anderen Gegenden der Türkei von der Bundesrepublik Deutschland angeworben. Von Anfang an gab es etwas, dass sie immer begleitet hat und Bestandteil ihrer Kultur war: ihre Musik – ein Stück Heimat in der Fremde. Über die Jahre entwickelten sich in Deutschland eigenständige musikalische Richtungen, die es in dieser Form im Herkunftsland nicht gab. Diese beispiellose Geschichte einer selbständigen Musikkultur der Einwander_innen aus der Türkei, ihrer Kinder und Enkelkinder in Deutschland, erzählt der spannende Kino-Dokumentarfilm „Aşk Mark ve Ölüm“ / LIEBE, D-MARK UND TOD von Cem Kaya unterhaltsam und sehr vielschichtig mit noch nie gesehenem Archivmaterial. Fern der Heimat, fremd im neuen Land, entstanden zu Beginn der Einwanderung melancholische Musikstile wie die Gurbetçi-Lieder (Lieder aus der Fremde). Präsentiert von Künstler_innen wie Yüksel Özkasap, der Nachtigall von Köln, oder Aşık Metin Türköz („Mayestero“).

Ihnen folgten jüngere Musiker_innen wie das Duo Derdiyoklar („Liebe Gabi“), Ozan Ata Canani („Deutsche Freunde“) oder Cem Karaca und die Kanaken („Mein Freund, der Deutsche“), die in ihren gesellschaftskritischen Liedern zum ersten Mal auch auf deutsch sangen und damit sowohl die migrantische als auch die deutsche Popkultur prägten. HipHop wurde zum Sprachrohr der zweiten und dritten Generation von Menschen, die in Deutschland aufgewachsen waren. Pioniere deutsch-türkischen HipHops wie Fresh Familee, King Size Terror oder Islamic Force waren Wegbereiter zeitgenössischer Pop Musik in Deutschland.

Der Filmtitel „Aşk, Mark ve Ölüm“ ist inspiriert vom gleichnamigen Gedicht des Autors Aras Ören, welches 1982 von der Band IDEAL vertont wurde.

(Textverantwortliche: KE)

„Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod“ & Live-Musik mit Eren Akşahin Still
Kurzfilmabend: „Wann kamst du an?“, „Kirschknochen“ & „Friends of Frozen Conflicts“
12.05.

Kurzfilmabend mit Gästen!

Filme:
Friends of Frozen Conflicts, Regie: Klaus Erika Dietl, Stephanie Müller (D/Georgien 2019, 28:49 Min., digital, deutsch/georgisch mit engl. Untertiteln)
Kirschknochen, Regie: Evgenia Gostrer (D 2021, 17:35 Min., DCP)
Wann kamst du an? ein Essayfilm über das Ankommen als Migrantin, Regie: Serafima Rayskina (D 2023, 15:58 Min., digital, deutsch/russisch mit de/ru Untertiteln)

**Die Regisseur_innen werden am Filmabend für ein Filmgespräch & Q&A zur Verfügung stehen!


Friends of Frozen Conflicts, Regie: Stephanie Müller und Klaus Erika Dietl in Kollaboration mit Nathalie Brechbühl, Paula Ďurinová, Nathalie Koger und Manuela Luterbacher

Das Grenzgebiet scheint zwar durchlässig, die Vegetation aber bis an die Zähne bewaffnet. Ankommen – dort, wo Deine Nachbar_innen Dir die Kloschüssel, den Besen und den Basketball wegnehmen – wenn Krieg ist.
Ein ausgebombtes Kino im Herzen von Zemo Nikozi, ein kleines georgisches Dorf, beschenkt mit reicher Ernte. Der letzte Film lief hier am 08.08.08. Dann brach der Krieg aus zwischen Russland und Georgien. Die Menschen mussten ihre Häuser verlassen und konnten nur hoffen, dass ihre geliebten Kühe überleben würden.
Ein Jahrzehnt lang hat niemand gewagt, die kaputten veilchenblauen Kinosessel zu verschieben. Als wir die Ruine im Herbst 2018 betraten, fanden wir die letzten Reste dessen, was früher ein beliebter sozialer Treffpunkt gewesen war: eine leere Halle, voller Taubenkot und Schimmel.
Heute gibt es keine öffentliche Vorführung mehr in Zemo Nikozi. Stattdessen verraten in den Mauern Einschusslöcher, was draussen vor sich geht. Die Kühe sind diejenigen, auf die die Dorfbewohner_innen Acht geben. Täglich ziehen sie früh morgens los und paradieren an der unsichtbaren Grenze entlang ins Niemandsland. Der Rhythmus der Tiere gibt Zemo Nikozi seine Struktur und lässt die Bewohner_innen dort, wo sie herkommen, wieder ankommen.

Kirschknochen, Regie: Evgenia Gostrer

Aus einer sehr persönlichen Perspektive erzählt die Filmemacherin in ihrem dokumentarischen Animationsfilm „Kirschknochen“ die Geschichte ihrer Familie, die als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion Mitte der 1990er Jahre nach Deutschland kamen. Dabei tritt die Regisseurin in einen Dialog mit ihren Eltern, der im richtigen Leben nicht möglich wäre und bietet einen Einblick in weit mehr als eine besondere Einwanderung- und Familiengeschichte.
Evgenia Gostrer gelingt dabei eine kunst- wie reizvolle Verwebung der unterschiedlichen Materialien und Vermittlungsformen. Die dichte Erzählung und die minimalistischen Bilder ergänzen sich hervorragend zu einer künstlerischen Vision, die darüber hinaus einen persönlichen, intimen Zugang zur Lebenswelt der Filmemacherin selbst ermöglicht.“ Filmbewertungsstelle

Wann kamst du an? ein Essayfilm über das Ankommen als Migrantin, Regie: Serafima Rayskina
Die Erstaufnahmeeinrichtung als Ort des Wartens.
Es stehen viele Angekommene hinter jeder einzelnen Silhouette. Sie sind Stellvertreter_innen der migrierten. Sie sind Ordner und Akten in dem bürokratischen Wesen der Migrationsbehörden. Die Erstaufnahmeeinrichtung als ein Ort zwischen den Leben. Dort wo die Erinnerung wegfällt bleibt eine Lücke für die Menschen. Diese Abwesenheit erzählt von dem Dazwischen. Zwischen dem Verlassen des alten Lebens und dem Ankommen in der neuen Gesellschaft. Der Alltag in der Erstaufnahmeeinrichtung ist Teil dieses Wartens: das Warten auf das Weitergehen, auf ein neues Leben in einem neuen Land, auf eine neue Unterkunft, eine neue Stadt. Die der Künstlerin fehlende Erinnerung an diesen Abschnitt ihrer Migration ist die Schnittstelle, über die der Film spricht.

Bildnachweis Landesstelle Unna-Massen / DOMiD-Archiv, Köln
Sprecherinnen: Serafima Rayskina, Lyudmila Timokhina
Foto Credits: Christian Sowa

(Textverantwortliche: KE)

Kurzfilmabend: „Wann kamst du an?“, „Kirschknochen“  & „Friends of Frozen Conflicts“ Still